1.1 Kapitalismus und Neoliberalismus als Produzent_innen gesellschaftlicher (und infrastruktureller) Beschleunigungsmaschinen

Bei dem Versuch, die Verhältnisse und Lebensrealitäten in
industrialisierten Staaten abseits altbekannter Begriffe wie
kapitalistisch und neoliberal zu umschreiben taucht die Metapher des
Rausches auf.

Rausch meint nicht nur die wie berauschte, unreflektierte oder als
unumgänglich angesehene Eingliederung in bzw. die Reproduktion von
derzeit bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen sondern
referiert gleichzeitig auf das immense Potential an Geschwindigkeit
und Geschwindigkeit reproduzierendem Humankapital. Es geht hier um
ein Mitreißen und mitgerissen werden durch jene Dynamisierung welche
für kapitalistisch-neoliberale Systeme grundlegend charakteristisch
zu sein scheint wobei die Macht über eine Gesellschaft mit der
Kontrolle ihrer Geschwindigkeit in eins fällt. Das Motiv dieser
Berauschung impliziert dabei keine dionysische1
Lusterfüllung, auch wenn es oberflächlich betrachtet tatsächlich
die Suche nach einem „erfüllten Leben“ zu sein scheint, die das
menschliche Tun antreibt. durch die vorschnelle Assoziation von
Erfülltheit mit kapitalistischen Glaubensbekenntnissen von
wirtschaftlichem Erfolg, gesellschaftlichem Status, normativer
Schönheit, Masse und Effizienz ist dieser Begriff allerdings
verbunden und gefüllt mit technischem Kalkül. Gefolgt von dem
Ziel, möglichst viel Ausschluss zu produzieren um nicht selber
Ausschluss- und Ausschussware zu werden. Innerhalb dieser
Gesellschaften ist die Grenze zwischen ökonomischen
Glaubensgrundsätzen und ökonomischer Politik dabei schon seit die
Zeit aus den Fugen geriet2
aufgehoben und kapitalistische Maxime zu Dogmen stilisiert worden.
Gleichzeitig fanden auf Ebene der Religionen Säkularisierungsprozesse
statt wodurch viele Menschen von ihren religiösen Überzeugungen
weitgehend entbunden und andersweitig “wiederbefüllbar” werden.

Der Geschwindigkeitsrausch wird zum allumfassenden Prinzip – er
spiegelt sich im Alltag seiner Produzent_innen nicht nur in einem
Mangel an Freizeit wider, er zeitigt auch reißerische Kapitalflüsse,
auf Zeiteffizienz ausgerichtete Verkehrsnetze, digitale Datenströme,
hetzende, gestresste und drängende Horden und die Verpflichtung,
immer und überall erreichbar, abrufbar und einsetzbar zu sein. Was
hier in Bewegung gerät ist jedoch konfus und nicht mehr als
“gerichtete Vorwärtsbewegung” zu verstehen. Das Maximum an
Geschwindigkeit ist tatsächlich schon erreicht und damit tritt an
die Stelle von Beschleunigung “die Wahrnehmung einer gleichsam
bewegungslosen und in sich erstarrten Steigerungsspirale … rasender
Stillstand”3.

Dementsprechend findet Paul Virilio gerade auch ein widerständige
Potential in Geschwindigkeitsströmen und -räuschen: Bewegungen und
Aufstände gegen etablierte Systeme gewinnen ihre Durchsetzungskraft
nicht zuerst durch die Masse von beteiligten Menschen oder die
Dringlichkeit ihrer Anliegen sondern vielmehr aus der Umleitung von
Geschwindigkeitsströmen zu der sie führen:

“Die Masse ist kein Volk und keine Gesellschaft, sondern eine
Vielzahl von Passanten: das revolutionäre Kontingent gewinnt seine
ideale Gestalt nicht an den Produktionsstätten, sondern auf der
Straße, wenn es aufhört, ein technisches Relais der Maschine zu
sein, und selber zum Motor (Angriffsmaschine) wird, das heißt zum
Produzenten von Geschwindigkeit.”4

Was hier unter Produzenten von Geschwindigkeit gefasst wird ist
grundlegend verschieden von Geschwindigkeit reproduzierendem
Humankapital – hier geht es nicht mehr um eine Reproduktion von und
Aufrechterhaltung von Geschwindigkeitsspiralen und -niveaus durch
eine unumgehbare Eingliederung und eine Teilhabe an diese stützende
Prozesse sondern um eine hierarchische Verschiebung und Ermächtigung,
welche das Eingreifen in bereits bestehende Geschwindigkeits- und
Stromnetze erst ermöglicht. Virilio sieht also die Verschiebung von
Reproduzenten zu Produzenten von Geschwindigkeit als wesentliches
Merkmal und Grundlage subversiver Identität*. Gleichzeitig ist für
ihn Hast eine Notwendige Vorraussetzung für Veränderung –
widerständige Praxis funktioniert durch das exzessive Überrumpeln
gesellschaftlich etablierter Konventionen:

“Die Zeit des Lesens impliziert auch Zeit zum Nachdenken, eine
Verzögerung, welche die dynamische Wirksamkeit der Masse zerstört.
Wenn die Meute zufällig einmal in ein monumentales Bauwerk
eindringt, so wird dieses sehr schnell in einen Durchgangsort
umgewandelt, den jeder betritt und verläßt, wo jeder rein- und
rausschafft, – es ist die Besetzung durch eine hastige Horde, eine
Plünderung um der Plünderung willen …”5

Von welcher Qualität müssten nun aber diese Geschwindigkeitsströme
sein? Denken wir mit Virilio die momentanen Verhältnisse als die
maximale Ausformung von Geschwindigkeit, die gleichzeitig in einer
Art Stillstand münden muss, so wäre der Impuls der Beschleunigung
gleichzeitig entschleunigend und damit eine wieder ins Spiel bringen
von Bewegung. Im Falle rasenden Stillstands wäre es also die
Entschleunigung, die einen Fortlauf erst ermöglichen würde. Die
Versammlung Aufständischer auf den Straßen führen zu einem
Erliegen der Verkehrsströme, Hacker blockieren Daten- und
Kommunikationsflüsse und Joe Stark fliegt sein Sportflugzeug in ein
Regierungsgebäude in Austin, Texas. “I find myself once again
beginning to finally pick up some speed”6
beschreibt er die unzähligen und immer wieder scheiternden Versuche,
dem Geschwindigkeitsanspruch der Gesellschaft Folge zu leisten in dem
von ihm hinterlassenen Manifest. “I am finally ready to stop this
insanity.”7

1Die
auf Schlegel zurückgehende und von Friedrich Nietzsche
popularisierte Unterscheidung zwischen Appolonischem und
Dionysischem als Antriebsfeder bzw. Charakteristik von Tun versteht
das Dionysische als lustvolles, ekstatisches und rauschhaftes
Prinzip entgegen dem Appolonischem, welches strategisches,
kalkuliertes Denken und Handeln meint. In diesem Fall scheint die
Appolonische Geste allerdings einen rauschhaften Zustand zu
bedingen.

2The
time is out of joint: O cursed spite, That ever I was born to set it
right!”, vgl: William Shakespear: “Hamlet”, Akt1, Szene 5

3Hartmut
Rosa: “Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne”,
Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, Umschlagtext

4Paul
Virilio: “Geschwindigkeit und Politik”, Berlin: Merve Verlag
1980, S. 9

5Virilio:
“Geschwindigkeit und Politik”, S. 11

6Joe
Starks Abschiedsbrief, veröffentlicht u.A. auf

Joe Stack: “take my pound of flesh and sleep well”

7Siehe
oben